Sieben Uhr morgens im Versandzentrum Haldensleben. Um diese Zeit herrscht im Wareneingang Hochbetrieb. Täglich kommen dort zahlreiche Wechselaufbauten und Seefrachtcontainer an. Geladen haben sie T-Shirts, Pullover, Blusen, Hemden, Hosen, Schuhe – eben alles, was man an Mode bei bonprix und OTTO bestellen kann. An Spitzentagen werden bis zu 40.000 Kartons mit Neuware angeliefert, entladen und eingelagert – ein anstrengender Job, der viel Muskelkraft voraussetzt und volle Konzentration verlangt. Seit Anfang August haben die Mitarbeitenden im Wareneingang einen neuen „Kollegen“, der sie tatkräftig dabei unterstützt: „Stretch“ heißt er, wiegt 1.300 Kilogramm und ist ein KI-gestützter Roboter. Seine Aufgabe: Kartons greifen, auf dem Förderband ablegen und die Mitarbeitenden dadurch entlasten.
Im vergangenen Jahr hat die Otto Group mit Boston Dynamics, einem der weltweit führenden Robotikanbieter, eine strategische Partnerschaft geschlossen. Sie sieht unter anderem den Einsatz von Stretch an mehreren Logistikstandorten des Konzerns vor. In diesem Zusammenhang integriert die Otto Group nun den europaweit ersten Stretch in ihre Logistikprozesse. Die Wahl fiel dafür auf Haldensleben in Sachsen-Anhalt, weil das dortige Versandzentrum seit 30 Jahren das Herzstück der Logistik für die Otto Group ist. Spezialisiert ist der Standort auf die logistische Abwicklung des kleinvolumigen Sortiments. Dazu gehören vor allem Bekleidung und Schuhe.
Dreh- und Angelpunkt für den E-Commerce der Otto Group
Mit modernster Technik übernimmt der zum Konzern gehörende Logistikdienstleister Hermes Fulfilment dort die Warenlagerung, packt Pakete und Tüten mit den im Internet bestellten Artikeln, kümmert sich um den europaweiten Versand und lagert die Waren, die bei Nichtgefallen zurückgeschickt werden, wieder ein. Bis zu 300.000 Sendungen verlassen den Standort täglich. Das Versandzentrum ist eines der größten in Europa und zum Dreh- und Angelpunkt für den E-Commerce der Otto Group geworden.
Damit das so bleibt, wurde zuletzt vor allem in die Digitalisierung und in den Einsatz von KI-gestützten Technologien investiert. Stretch ist ein mobiler, autonomer Roboter. Er kann Kartons unterschiedlicher Größe mit einem Gewicht von bis zu 23 Kilogramm handhaben. Die Entladerate pro Stunde liegt bei rund 500 Packstücken, in der Logistik auch „Kolli“ genannt.
Ausgeklügeltes Zusammenspiel von Kameras und Sensoren
Vereinfacht ausgedrückt, besteht Stretch aus einem Roboterarm mit Greifwerkzeug und einem schwenkbaren „Wahrnehmungsmast“. Beide Elemente sind auf einer etwa ein Quadratmeter großen, beweglichen Plattform angebracht. Im „Wahrnehmungsmast“ sind verschiedene Kameras und Sensoren installiert. Sie versetzen den Roboter in die Lage, einen 360-Grad-Blick auf seine Umgebung zu werfen, sich zu orientieren und Objekte präzise zu erkennen. „Das Besondere ist das ausgeklügelte Zusammenspiel von Kameras und Sensoren“, erklärt Tomek Pauer. Der Projektmanager im Supply Chain Management der Otto Group leitet die strategische Partnerschaft seit zwei Jahren und verantwortet als Programmleiter die Einführung der neuen Technologie. Das differenzierte System für die Umgebungswahrnehmung arbeitet eng mit dem Roboterarm zusammen. Er verfügt über sieben Achsen und hat eine Reichweite von bis zu 3,2 Meter vertikal und knapp zwei Meter horizontal. An dessen Ende befindet sich ein schwenkbarer Vakuumgreifer mit 50 rechteckig angeordneten Saugnäpfen.
Mithilfe der pneumatischen Steuerung und Sensorik kann Stretch eine breite Palette von Kartontypen und -größen erkennen und dank der Beweglichkeit des Werkzeugs aus verschiedenen Winkeln greifen. Selbst Kartons, die beim Entladen verrutschen oder herunterfallen, stellen kein Problem dar: „Je nach Position des Kartons entscheidet der Roboter selbstständig, ob er zunächst das heruntergefallene Packstück aufhebt oder den Entladevorgang im Container fortsetzt“, berichtet Tomek. Sollten Kartons den Weg blockieren, navigiert Stretch drum herum. Eine aufwendige Programmierung vor dem Einsatz ist nicht erforderlich. „Der Roboter muss einmalig konfiguriert werden, indem er beispielsweise mit den Toren und dem verbauten Equipment vertraut gemacht wird. Den Rest übernimmt der gelernte Algorithmus, auf den der Roboter beim Entladen zurückgreift“, erklärt Tomek.
Zum Einsatz kommt Stretch in der Pilotphase zunächst an einem Tor im Wareneingang des Versandzentrums Haldensleben. Dafür waren bauliche Veränderungen notwendig. Damit der 1,3 Tonnen schwere Roboter in den Container fahren kann, um die Kartons zu entladen, musste die Laderampe hydraulisch verstärkt werden. Außerdem wurden an der Fördertechnik im Wareneingang zusätzliche Scanner installiert. Sie prüfen beispielsweise die von Stretch abgelegten Kartons von sechs Seiten auf Beschädigungen. Ist ein Packstück aufgerissen oder verbeult, wird es bereits im Wareneingang automatisch ausgeschleust, bevor es über Förderbänder ins Hochregallager transportiert wird. Das Hochregallager ist das Herzstück des Versandzentrums: Dort lagern bis zu 1,2 Millionen Kartons mit Ware. Würde man alle Pakete hintereinanderlegen, käme dabei eine Länge von ca. 600 Kilometern heraus. Das entspricht etwa der Luftlinie zwischen Hamburg und München.
Innovative Ansätze im Arbeitsalltag
Weil die Packstücke schwer sind, ist das Entladen einer der härtesten Jobs im Versandzentrum. Hinzu kommt, dass die Container und Wechselaufbauten sich im Sommer aufheizen können, es im Winter in den Boxen aber auch sehr kalt werden kann. Stretch soll die Mitarbeitenden im Wareneingang fortan entlasten. Der Roboter wird die Arbeitsbedingungen verbessern, indem er den Beschäftigten einen Teil der schweren körperlichen Tätigkeit abnimmt. Künftig können sie komplexere, wertschöpfendere Aufgaben im Versandzentrum übernehmen. Mit der Investition in KI-basierte Robotiklösungen wird einmal mehr deutlich, dass sich die Otto Group aktiv für die Zukunft aufstellt.
Um den wachsenden Anforderungen des Onlinehandels gerecht zu werden und den Service kontinuierlich zu verbessern, setzt die Otto Group auf ein starkes Zusammenspiel zwischen Menschen und Technik. Berührungsängste in der Belegschaft gibt es kaum. Im Gegenteil: Die Neugier und die Vorfreude der Beschäftigten auf eine Entlastung durch den neuen „Kollegen“ sind groß. „Die Kombination aus menschlicher Expertise und technologischen Innovationen ist ein wichtiger Baustein, um den wachsenden Anforderungen des Marktes gerecht zu werden und den Service für unsere Kund*innen noch weiter zu verbessern,“ betont Kay Schiebur, im Konzern-Vorstand der Otto Group für Service zuständig.
Denn Stretch sorgt nicht nur für eine Entlastung der Mitarbeitenden und eine optimierte Arbeitsumgebung, sondern verbessert auch die Effizienz der logistischen Prozesse. Dass die Leistung des Roboters zuverlässig über einen langen Zeitraum zur Verfügung steht, steigert die Planbarkeit vor allem in Phasen mit einem hohen Bestellaufkommen – wie zum Beispiel am Black Friday oder im Weihnachtsgeschäft – und erhöht die Warenverfügbarkeit im Versandzentrum. Damit trägt der Einsatz von Robotern auch zu einem verbesserten Einkaufserlebnis bei.
Nach erfolgreichem Abschluss der Pilotphase im Versandzentrum Haldensleben mit zunächst einem Stretch-Roboter und vier weiteren in den kommenden Monaten plant die Otto Group, die Robotik-Lösung auf andere Standorte ihres Logistiknetzwerks auszurollen. Zudem wird im Rahmen gemeinsamer Forschung und Entwicklung an weitere Anwendungsfällen gearbeitet, wie dem Palettieren oder Beladen von Containern.
Langfristige, skalierbare Technologie-Lösungen
Stretch und dessen europaweit erster Einsatz in einem Versandzentrum ist ein Beispiel dafür, wie die Otto Group die Zukunft der Logistik fortlaufend aktiv mitgestaltet. „Die Otto Group gestaltet die Zukunft der Logistik aktiv. Mit der Einführung von KI-Robotics, den Eröffnungen des innovativen Shuttlelagers in Altenkunstadt und dem neuen europäischen Leuchtturm im Fulfilment, dem Logistikcenter in Ilowa, halten wir eine hohe Schlagzahl und investieren einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag in die Verbesserung des Kundenerlebnisses,“ betont Kay Schiebur. „Investitionen in Technologie sind kein kurzfristiger Trend, sondern Teil einer langfristigen Strategie, um skalierbare Prozesse zu schaffen, die weit über einzelne Anwendungsfälle hinausgehen.“